Frische Ideen angewandt

Frankfurter

Zukunfts

Kongress

23.12.2020

Technik alleine ist zu wenig

Prof. Yvonne Ziegler und Karlheinz Löw im Interview

Auf dem Frankfurter Zukunftskongress unternimmt die AOK Hessen gemeinsam mit der Frankfurt University of Applied Sciences eine Expedition in die Arbeitswelt 4.0. Im Interview sprechen Karlheinz Löw, Direktor Personal-Finanzen-Infrastruktur bei der AOK Hessen, und Prof. Dr. Yvonne Ziegler, Professorin für Betriebswirtschaft und Luftverkehrsmanagement an der Frankfurt University of Applied Sciences, darüber, wie die Coronakrise unsere Arbeitswelt, die Digitalisierung und unsere Umwelt beeinflusst hat.

Herr Löw, wie haben Sie dieses Jahr erlebt?

Löw: Ich frage mich oft, was man in 50 Jahren über das Jahr 2020 schreiben wird. Neben persönlicher Betroffenheit, die ich beim Anblick von Fotos aus Krankenhäusern empfinde, spielt dabei aber noch eine andere Einsicht eine Rolle: Die Erfolge der Vergangenheit zählen nichts mehr. Ich habe den Eindruck, dass dadurch eine Rückbesinnung stattfindet. Was ist wirklich wichtig? Was verbindet uns als Gesellschaft? Das Jahr war ein Wechselbad aus Betroffenheit und der Zuversicht, dass wir daraus etwas für die Zukunft mitnehmen können.

Frau Ziegler, was wird man Ihrer Einschätzung nach aus der Krise mitnehmen? Werden Errungenschaften wie Home Office und E-Learning weiter eine Rolle spielen oder vom alten Normalzustand verdrängt werden?

Professor Ziegler: Die Wahrheit wird in der Mitte liegen. Vielen Menschen fehlt der persönliche Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen. Auch bei meinen Studierenden beobachte ich das. Viele haben sich besonders den Start ins Studium ganz anders vorgestellt. Andere wiederum schätzen die Arbeit im Home Office sehr, zum Beispiel, weil sie Zeit und Geld für die Anreise sparen. Deshalb wird man ein Stück weit versuchen, beiden entgegenzukommen. In manchen Bereichen wird man aber wirtschaftlich abwägen müssen. Denken Sie zum Beispiel an die Pharmabranche. Dort musste man für den operativen Bereich auf die Schnelle neue Schichtsysteme entwickeln, um Personal auszudünnen. Das war eine riesige Herausforderung und man wird in Zukunft bewerten müssen, ob sich daraus Vorteile für Unternehmen und Angestellte ergeben.

Die AOK Hessen treibt seit einigen Jahren das Programm Arbeitswelt 4.0 voran. Herr Löw, hat Corona diesen Bemühungen vorerst einen Riegel vorgeschoben?

Löw: Sicherlich stand im Februar und März das Krisenmanagement im Fokus. Viele Maßnahmen, die wir zum Schutz unserer Angestellten und unserer Kundinnen und Kunden umsetzen konnten, sind aber mit dem Handlungsprogramm Arbeitswelt 4.0 verknüpft. Wir konnten Beratungscenter schnell schließen, alternative Kundenberatung sicherstellen und einer hohen Anzahl von Mitarbeitenden Home Office ermöglichen, weil mobiles Arbeiten und digitale Kommunikationskanäle schon vorher fester Bestandteil unserer Unternehmenskultur waren. Mit dem Handlungsprogramm Arbeitswelt 4.0 wollten wir auf die Veränderung der Arbeitswelt und von Kundenwünschen eingehen. Uns war klar, dass die Digitalisierung dabei ein entscheidender Baustein sein würde. Insofern haben wir mit dem Handlungsprogramm Arbeitswelt 4.0 ein Fundament gelegt, auf das wir sehr gut aufbauen konnten. Hinzu kam, dass wir in der Krise Entscheidungen rasch, mit viel Pragmatismus und Menschlichkeit getroffen haben. Das kam besonders bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gut an.

Frau Ziegler, haben Sie einen gestiegenen Pragmatismus ebenfalls beobachten können?

Professor Ziegler: Ich beobachte das im Luftverkehr, einer Branche, zu der ich durch meine Forschung eine große Nähe habe. Dort spielt die Frage, wie Passagierprozesse digital und ohne persönlichen Kontakt gestaltet werden können, eine große Rolle. Corona sorgt dafür, dass Themen, die vorher verpönt waren, Fahrt aufnehmen. Ein Beispiel dafür ist die biometrische Datenerfassung, die plötzlich in vielen Überlegungen auftaucht. Es stimmt also schon, dass Corona Entscheidungen beschleunigt und Pragmatismus fördert.

Herr Löw, würden Sie sagen, dass Corona auch die Digitalisierung bei der AOK Hessen vorangetrieben hat?

Löw: Die IT-Abteilung hat gezaubert, das steht fest und wird auch so anerkannt. Andererseits war mobiles Arbeiten, um ein Beispiel zu nennen, schon vorher möglich. In der Coronakrise haben wir diese digitalen Möglichkeiten genutzt, um Verantwortung gegenüber unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu übernehmen und lösungsorientiert in der besonderen Situation zu agieren. Denn wer von 4.000 Angestellten spricht, der spricht in erster Linie über 4.000 Menschen, die vor persönlichen Herausforderungen wie Zuhause Arbeiten und gleichzeitig die Pflege von Angehörigen und/oder Kinderbetreuung an einem Ort stehen. Was nützt in diesen Fällen die beste Technik, wenn sie nicht richtig genutzt wird? Wir haben mit Webinaren und Foren Möglichkeiten zum sozialen Austausch geschaffen. Es ging nicht darum, die Digitalisierung blind voranzutreiben. Unser Fokus war die Kombination von Gesundheitsschutz, Unternehmenskultur und Technik.

In den letzten Monaten hatte man bisweilen den Eindruck, dass eine andere, vielleicht noch größere Krise plötzlich in Vergessenheit geraten ist. Teilen Sie beide die Einschätzung, dass die Klimakrise momentan kaum noch eine Rolle spielt?

Löw: Man muss deutlich sagen: Die Coronakrise hat das Klimaproblem in den Medien vorübergehend verdrängt und die AOK Hessen nimmt beide Themen sehr ernst. Wir haben die Zeit während der Krise genutzt, um Entwicklungen voranzutreiben, die wir bereits begonnen hatten. Durch Photovoltaikanlagen und zwei Eisspeicher, wollen wir zum Beispiel zukünftig unsere Eigenversorgung in unserem Bildungszentrum deutlich erhöhen und den Energieverbrauch reduzieren. Wir haben auch 1,7 Millionen Kundinnen und Kunden, die uns ihre Gesundheit anvertrauen. Und was hat mehr mit Gesundheit zu tun als unsere Umwelt und unser Klima? Deshalb nehmen wir als AOK Hessen auch das Thema Nachhaltigkeit sehr ernst.

Ziegler: Diese Einschätzung kann ich nur bestätigen. An der Frankfurt University of Applied Sciences bildet Nachhaltigkeit einen Forschungsschwerpunkt. Mit dem neu gegründeten Institute for Aviation and Tourism forschen wir daran, wie sich eine ganze Branche nachhaltiger aufstellen kann. Sicherlich hat Corona auch zu vielen positiven Effekten geführt. An der Hochschule konnten wir zum Beispiel Heizkosten und Dienstreisen einsparen. Andererseits gibt es aber auch Gegentrends. Der öffentliche Personennahverkehr wird weniger genutzt, viele Pendler sind wieder auf das Auto umgestiegen. Wenn man alle unterschiedlichen Auswirkungen der Krise betrachtet, stellt man fest, dass man sich im Hinblick auf CO2-Emissionen vielleicht zu viel von Corona erwartet hat. Nachhaltigkeit wird neben der Digitalisierung das Thema der kommenden Jahre sein. 

Hinweis: Zum Institute for Aviation and Tourism auf LinkedIn gelangen Sie hier.

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Karlheinz Löw, AOK Hessen

Karlheinz Löw | Direktor Personal - Finanzen - Infrastruktur bei der AOK Hessen
Seit 2012 beschäftigt sich Karlheinz Löw in seiner Funktion auch mit Prozessmanagement und Informationstechnologie, außerdem verantwortet er das interne Gesundheitsmanagement. Zu seinen Aufgaben gehört ebenso die Implementierung des Change-Prozesses im Kontext der Markenführungsstrategie sowie zum Projekt Arbeitswelt 4.0. Ein besonderes Augenmerk richtet er dabei auf die Etablierung neuer Arbeits- und Führungsmodelle. Darüber hinaus ist er mit Vereinbarkeitsthemen und Diversity Management befasst. In den Jahren zuvor war der Krankenkassenfachwirt u. a. mit der Entwicklung tragfähiger Konzepte zu Pflege und Disease Management betraut.

Prof. Dr. Yvonne Ziegler, FRA UAS

Prof. Dr. Yvonne Ziegler | Professorin für Betriebswirtschaft mit besonderem Schwerpunkt Luftverkehrsmanagement an der Frankfurt UAS
Prof. Dr. Yvonne Ziegler ist seit 2007 Professorin für Betriebswirtschaft mit besonderem Schwerpunkt Internationales Luftverkehrsmanagement. Sie war von September 2010 bis August 2013 Dekanin des Großfachbereichs Wirtschaft und Recht der Frankfurt University of Applied Sciences. Im Zeitraum 1991 bis 2006 war sie für den Lufthansakonzern in verschiedenen Führungspositionen im Vertrieb und Marketing im In- und Ausland tätig. Von 2017-2020 leitete sie das Forschungsprojekt Pharma Supply Chain Risk Management, welches durch das LOEWE3 Forschungsförderungsprogramm für herausragende wissenschaftliche Forschungsprojekte des Landes Hessen finanziert wird. Sie ist Mitglied des Promotionszentrum Logistik & Mobilität und stellvertretende Vorsitzende Direktorin des Institute for Aviation and Tourism (IAT).

AOK Hessen ist Denkraumpartner

AOK – Die Gesundheitskasse in Hessen
Die AOK – Die Gesundheitskasse in Hessen betreut nahezu 1,7 Millionen Kundinnen und Kunden und ist für Versicherte und etwa 117.000 Unternehmen bei Fragen rund um Gesundheit, Kranken- und Pflegeversicherung Ansprech-partnerin Nummer eins. Als Marktführerin in Hessen mit einem Haushaltsvolumen von etwa 6 Milliarden Euro in der Krankenversicherung und knapp 1,3 Milliarden Euro in der Pflegeversicherung gestaltet sie die regionale Gesundheitsversorgung maßgeblich mit.

Bildnachweis Profilfoto Prof. Dr. Yvonne Ziegler: Gerald Fuest / Yvonne Ziegler